Nachlass zu Lebzeiten.

Das Gesamtwerk als Horizont künstlerischer Produktion in Moderne und Gegenwart

Ein nicht unwesentlicher Teil der künstlerischen Produktion entsteht seit dem 19. Jahrhundert im Modus der »prospektiven Retrospektion« (Hans-Jörg Rheinberger). Während das einzelne Werk in der Moderne zunehmend an Bedeutung verloren hat oder in seinem Status relativiert wurde, erlangte das Gesamtwerk als imaginärer Horizont neuer Arbeiten einen bis dahin ungekannten Stellenwert. Um nur einige, besonders prominente Beispiele anzuführen: Bereits Claude Lorrain und Jean-Auguste-Dominique Ingres schufen graphische Reproduktionen all jener Gemälde, die – in letzter Konsequenz erst posthum – ihr Œuvre bilden sollten. Paul Klee begann schon als 31-Jähriger ein eigenhändiges Werkverzeichnis zu führen, wobei er nachträglich Arbeiten aufnahm, die vor seiner Zeit als professioneller Künstler datieren, und umgekehrt keineswegs allen Graphiken und Gemälden auflistet, die nach dem Abschluss seiner Ausbildung entstanden waren und noch entstehen sollten. Kurz danach stellte Marcel Duchamp eine Boîte en valise zusammen – ein materialisiertes Werkverzeichnis im handlichen Multiple-Format, eine Art transportables Miniaturmuseum mit 69 Repliken, Modellen und Farbreproduktionen nach Duchamps Hauptwerken. 


Spätestens an dem Tag, als Lorrain, Ingres, Klee und Duchamp ihre Arbeit als Kunsthistoriker ihres eigenen Werks begannen, veränderte sich die Bestimmung ihres Schaffens: Mit jedem neuen Gemälde, jeder neuen Zeichnung, jedem neuen Objekt arbeiteten sie an der Gestaltung und Vorwegnahme eines, in letzter Konsequenz erst posthum zu erfassenden Œuvres. Alle drei Künstler betrieben »Werkpolitik« (Steffen Martus): Mit der Arbeit an der Selbsthistorisierung ihrer künstlerischen Produktion schufen sie einen autoritativen Kontext, in dem ihre vergangenen, aktuellen und künftigen Werke rezipiert und interpretiert werden sollten. Sie sicherten damit aber nicht nur ihre Autorschaft (vgl. dazu Heinrich Bosse) und steuerten eben nicht nur die Rezeption, sie machten die bereits geschaffenen Werke als Residuum der aktuellen und künftigen Produktion verfügbar; die Imagination des vorweggenommenen Gesamtwerks konnte nun – in einer paradoxen Zeitschleife – bereits die Gegenwart prägen.


Trotz der tiefgreifenden Kritik an den Begriffen des Autors und des Werks im Poststrukturalismus und in der Gegenwartskunst hat die Sorge um das eigene Werk in den letzten Jahrzehnten keineswegs an Virulenz verloren. Konzeptuelle Künstler greifen seit den 1960er Jahren immer wieder auf die Strategie einer »One-Image-Art« (Lawrence Alloway) zurück, in der jedes einzelne Bild oder Objekt bestimmten vorab definierten Grundregeln folgt, sodass jede neue Arbeit Teil desselben Werks ist. Trotz der Unbegrenztheit der Serien erzeugen Langzeit- und lebenslange Projekte wie die Portraits von Chuck Close, die Date Paintings von On Kawara oder die bezeichnenderweise Detail betitelten Gemälde des französisch-polnischen Künstlers Roman Opałka eine Wirkung von Einheit und Abgeschlossenheit, die zuvor nur posthum, beim Blättern durch den Œuvrekatalog oder den Besuch einer Retrospektive zu gewinnen war. Die hier zu beobachtende Aufkündigung eines organischen Entwicklungsmodells von Kunst (das nicht zuletzt dem Ideal des ›Lebenswerks‹ zugrunde lag) erhält ihre monumentale Form unter den realzeitlichen Bedingungen des Internet. Die Präsentation des Œuvres auf der eigenen Homepage oder jener des Galeristen gehört aktuell zu den besonders verbreiteten Formen der Selbstproduktion zeitgenössischer Künstler. Im Falle der offiziellen Webseite von Gerhard Richter (https://www.gerhard-richter.com) ist der catalogue raisonné keine historiographische Unternehmung mehr, sondern bietet eine ständige Aktualisierung und Re-Präsentation des Werks in Realzeit. Die mehr als 3600 Werke verzeichnende Homepage ist weniger ein Hilfsmittel oder ein Parergon der künstlerischen Produktion, sondern – wie Wolfgang Kemp es zurecht formuliert hat – »ein ›Richter‹ höherer Ordnung«. Geordnet in der Art von Richters Farbtafeln bietet sie eine Ansicht seiner Gemälde, Druckgraphiken, übermalten Photographien, Editionen, Künstlerbücher, Spiegel- und Glasobjekte im Plural: Die Arbeiten sollen hier nicht – wie im Museum oder der Galerie – als Einzelwerke kontempliert, sondern als ›Details‹, als vorweggenommene Realisierungen eines monumentalen Werks betrachtet werden. 


Typische Phänomene des modernen Kunstbetriebs wie der Œuvrekatalog, die Einzelausstellung, die Künstlerbiographie oder aktuell auch die virtuelle Visualisierung des Werks auf den Homepages von Künstlern und Galerien sollen darauf hin befragt werden, ob und in welcher Weise sie dazu beitragen, den Effekt eines in sich konsequenten Gesamtwerks zu erzeugen. Zum anderen sollen alle jene Kunstgriffe und Phänomene in den Blick genommen werden, die der Inszenierung und Stärkung interpikturaler Bezüge innerhalb eines Œuvres dienen. Dazu gehören Umdatierungen und eigenhändige Rekonstruktionen von früheren oder verlorenen Bildern, Skulpturen oder Objekten ebenso wie formale und inhaltliche Setzungen, die sich überhaupt nur oder vornehmlich im Horizont des Gesamtwerks erschließen. Dazu gehören aber nicht selten auch die sogenannten ›Spätwerke‹ – und zwar immer dann, wenn sie in einer deutlichen Absatzbewegung, das ›eigentliche Werk‹ zu einem Ende bringen und eine Reflexion seiner historischen Stellung anstoßen. 

Das Projekt will die Vorstellungen, Praktiken und Diskurse zusammenbringen, die die Aufwertung des Gesamtwerks zum privilegierten Kontext der einzelnen Werke begleiteten. Die Diskussion wird sich dabei zwar auf die Geschichte der Bildenden Kunst konzentrieren, Blicke auf Literatur- und Musikwissenschaft sollen aber helfen eine vergleichende Perspektive auf gemeinsame – und divergente – Entwicklungen der Künste zu gewinnen. Weder innerhalb noch außerhalb der Kunstgeschichte ist von einem stabilen Verhältnis zwischen dem Werk und den Werken auszugehen; im Gegenteil: die Relation zwischen beiden stellt sich als hochdynamisches und komplexes Beziehungsgefüge dar, in dem die falsche Sicherheit eines Werkbegriffs autonomieästhetischer Provenienz weder für die einzelnen Produkte künstlerischen Schaffens behauptet noch auf den Zusammenhang zwischen ihnen übertragen werden kann. Welche Modelle von Einheit, Struktur oder Entwicklung begründe(te)n nun jeweils moderne und gegenwärtige Vorstellungen des Œuvres? Und welche Bezüge zwischen Leben und Werk wurden dabei jeweils hergestellt? Und welche Folgen hat(te) der Aufstieg des Œuvres schließlich für die Bedeutung und Interpretation des Einzelwerks? 



Literaturhinweise


Lawrence Alloway (Hg.): »Systemic Painting«, in: Systemic Painting, Ausst. Kat. Solomon R. Guggenheim Museum, New York 1966.

Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, neue, mit einem Nachwort von Wulf D. v. Lucius versehene Auflage, Paderborn 2014.

Gabriele Guercio: Art as Existence: The Artist’s Monograph and Its Project, Cambridge, Mass., London 2006. Wolfgang Kemp: Der explizite Betrachter. Zur Rezeption zeitgenössischer Kunst, Konstanz 2015.

Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin, New York 2007.

Hans Jörg Rheinberger: »Gesammelte Werke«, in: Günter Abel, Hans Jürgen Engfer, Christoph Hubig (Hrsg.): Neuzeitliches Denken, Berlin 2002, S. 13-22.

Alistair Rider: »The Longevity of Roman Opałka«, in: Art History 39 (2016), S. 820-839.