Einführung
Das Lebenswerk zu Lebzeiten vollenden hieß für Eugène Delacroix, ein Denkmal seiner eigenen Kunst zu schaffen. Diesem Ehrgeiz waren seine großformatigen Wandbilder in S. Sulpice gewidmet, die in ihrer Thematik und Form sein eigenes künstlerisches Vermächtnis als Vermächtnis der europäischen Malerei von Raffael und Tizian bis zu Géricault vorstellen sollten. Es war aber nicht nur die architekturgebundene Monumentalmalerei, der Delacroix zutraute, im Einzelwerk sein Lebenswerk darzustellen; er durfte auch damit rechnen, dass das modernen Kunstsystem seine großformatigen Gemälde zu einem Lebenswerk verbinden und als Lebenswerk vermitteln würde: durch monographische Ausstellungen, Publikationen und Reproduktionsvorhaben. Das Lebenswerk beruhte für ihn also auf dem institutionell, medial und diskursiv gestützten Vorrang des großen und auch großformatigen Einzelwerks. Welche Funktion kam in diesem Zusammenhang aber seinen zahlreichen kleinformatigen Bildern zu: den vorbereitende Zeichnungen und Ölskizzen, Naturstudien, Kopien nach fremden und eigenen Werken, lithographische Zyklen, nicht zuletzt kleinformatigen Gemälden für private Sammler? Und jenen ebenfalls kleinformatigen Reproduktionen seiner Bilder, die in derselben medialen Umwelt entstanden, in der seine großen Einzelwerke zum Lebenswerk synthetisiert wurden? In meinem Vortrag werde ich danach fragen, wie diese verschiedenartigen Kleinformate dazu beitrugen, Delacroix‘ künstlerische Produktion als Lebenswerk lesbar zu machen und allgemeiner: wie Formatierung und Œuvrebildung in seiner Malerei zusammenhängen.
Das strategisch datierte Lebenswerk
Datierungen wohnt eine bemerkenswerte Autorität inne. Sie konstituieren nicht nur die chronologische Ordnung, in deren Rahmen um eine historische Deutung der Kunst gerungen werden kann. Zugleich scheinen sie das Privileg der Macht zu genießen, nicht in Zweifel gezogen zu werden.
Zumindest bleibt oft Jahrzehnte unberücksichtigt, wenn Künstler wie Kandinsky, de Chirico oder Kirchner ihre Gemälde mit Datierungen versehen, die nicht ihrer Entstehungszeit entsprechen. Rückdatierungen eröffnen aber nicht nur die Möglichkeit, einzelne Werke nachträglich in einen anderen historischen Kontext zu rücken. Sie bieten zugleich Gelegenheit, insgesamt die Chronologie im Œuvre zu verrücken, indem beispielsweise das Schaffen ex post in Phasen eingeteilt wird, um Einfluss auf die Rezeption auszuüben und womöglich eine bestimmte Form des Nachruhms anzustoßen.
Eines der wohl prominentesten Exempel für strategische Rückdatierungen gibt zweifelsohne Kasimir Malewitsch ab, der um 1928 einen zweiten Zyklus seines Gesamtwerkes zu schaffen begann, den er jedoch empfindlich modifizierte, indem er etwa ein impressionistisches Frühwerk hinzufügte. Weit weniger bekannt ist, dass Gustave Courbet bereits eine ähnlich radikale Politik der Chronologie betrieb, als er 1855 anlässlich der Weltausstellung in Paris einige Werke so umdatierte, dass er beanspruchen konnte, vom jungen Romantiker zum gestandenen Realisten gereift zu sein. Durch den Vergleich der Datierungsstrategien Courbets und Malewitschs soll augenfällig werden, inwieweit es beiden Malern gelang, den Rahmen ihre Rezeption abzustecken, indem sie ihr Lebenswerk chronologisch neu ordneten
Strategien kompositorischer Autorschaft und Werkkonstitution im 20. Jahrhundert
Gesamtausgaben sind in der Musikwissenschaft in den letzten 30 Jahren als Produktion nationaler Denkmäler unter Verdacht geraten, als Konstrukte einer hegemonialen Geschichtsstrategie diskutiert worden – gerade in der Zeit, in der editorische Bemühungen sich zunehmend Komponisten des 20. Jahrhunderts zuwenden, denen sich die Frage der Autorschaft und die Konstitution eines Oeuvres aus historischen wie aus ästhetischen Gründen wie kaum vorher als kompositorische Aufgabe stellt. Sie hinterlassen in einem vorher so kaum gekannten Maße explizite Spuren ihrer Strategien künstlerischer Selbstvergewisserung als Autorisierung der Einzelwerke ebenso wie eines Werkzusammenhangs. Diese Spuren gilt es -–nicht nur, aber auch als Aufgabe der Musikphilologie – in ihren künstlerischen Konsequenzen zu bedenken und in ihrer Differenziertheit zu diskutieren. Dies soll exemplarisch an so unterschiedlichen Komponisten wie Arnold Schönberg, John Cage, Bernd Alois Zimmermann und Wolfgang Rihm versucht werden.
Stefan Georges Werk ohne Autor
Stefan George hat bereits seit den Anfängen seines poetischen Schreibens in den 1890er Jahren eine Fülle von Strategien und Praktiken zur Einrichtung eines umfänglichen Werks ergriffen, etwa im Abschreiben, in kalligraphischen Arbeiten, in der Wahl bestimmter Schriften und Typen in Handschrift und Druck, und durch die Gründung einer eigenen Zeitschrift und eines eigenen Verlags mit jeweils unverwechselbaren Publikationsformen. Noch die Erfindung von Buchformaten mit Standardausstattungen und Markenzeichen lässt sich womöglich als Beispiel einer erweiterten Autorschaft als „Werkherrschaft“ (Heinrich Bosse) lesen. Doch mit dem Einsatz digitaler Medien hat sich zugleich dieses ‚Werk‘ unterdessen so vermehrt und verändert, dass auch eben dieses grundlegende Konzept wechselseitiger Bindung und Beglaubigung nachhaltig in Frage gestellt ist. Entsprechend wäre über (andere) Praktiken und Konzepte der Herstellung und des Abschließens von literarischen ‚Werken‘ nachzudenken, „zu Lebzeiten“ und darüber hinaus, und über deren je eigene Medialität und Materialität.
Heinrich Zille in Händen Thomas Struths
Werke zu Gesamtwerken zu ordnen, produziert stets auch kulturelle Autorität. Diese ist im besonderen Maße brüchig, wo AutorInnen diese Autorität nicht selbst verbürgen. Der Vortrag nimmt Ausgang von einem Buch, an dem sich vieles über Probleme des Gesamtwerks ablesen lässt. Die Neuausgabe von Das alte Berlin. Photographien von Heinrich Zille 1890-1910bei Schirmer im Jahr 2014 soll als Antwort auf ein zweifaches Problem analysiert werden. Seit der ‚Entdeckung‘ jener lange unpublizierten fotografischen Produktion 1966 blieb ihr künstlerischer Stellenwert und ihr Verhältnis zum sattsam bekannten grafischen Oeuvre Zilles unklar. Als bloße „Photonotizen“ (Friedrich Luft) oder „Meisterwerke der historischen Photographie“ (Jeff Wall/Roy Arden) geltend, zwischen Street Photography und Photo-Essay changierend (Wolfgang Kemp) oder vollgültiger Ausdruck einer Künstlerpersönlichkeit (Enno Kaufhold) – so verschieden konnte es interpretiert werden, weil die Kodifizierung eines Gesamtwerks durch Zille selbst nicht umfassend vorgenommen worden war.
Zu einem dergestalt offenen Gesamtwerk trägt auch ein zweiter Umstand bei. Materiell überliefert ist ein Konvolut an Glasnegativen, das erst weiterer Bearbeitung und Optimierung bedarf, um überhaupt als ein Oeuvre und Teil eines Gesamtwerks anschaulich zu werden. Noch vor einer Veröffentlichung sind Operationen archivarischer und medialer Erfassung nötig, die auf die Gestalt des Oeuvres und seine Erfahrbarkeit zurückwirken. Die Vergrößerungen durch Thomas Struth inszeniert die Monografie von 2014 – nicht ohne Konsequenz – als künstlerisch sanktionierte Interpretation von Zilles Bildern, obwohl es doch eigentlich ein authentisches Werk präsentieren will.
Diese doppelte Problematik soll im Vortrag entfaltet und erhellt werden. Nicht einfach ein weiteres Kapitel der Kunstwerdung der Fotografie ist das Thema. Wie aus einem Archiv ein Oeuvre werden kann, das lässt sich hier in seltener Klarheit beobachten.
Duchamps Werkordnung als Indexikalisierung seines künstlerischen Bewußtseins
Marcel Duchamps Schaffen weist ein besonders hohes Maß an bewußter Selbstreferenz und Entwicklungskohärenz auf und bietet daher im Hinblick auf die Frage nach einem Nachlass zu Lebzeiten vielfache Anknüpfungsmöglichkeiten. Zu erinnern ist in diesem Kontext zuallererst an die zwischen 1935–1941 entstandene Boite en valise, jenen Lederkoffer, mit dem Duchamp das distributed object seines Werkes in Form eines portablen Miniaturmuseums bzw. Œuvrekatalogs zusammengestellt hat, womit er die Bezüglichkeiten zwischen seinen Arbeiten betonte. Vergleichbar hierzu sind die verschiedenen Schachteln, die Duchamp im Laufe seines Schaffens anfertigte oder anfertigen ließ, insbesondere die Grüne Schachtel von 1934, die aus Materialien verschiedenster Art besteht, darunter auch Faksimilie-Reproduktionen winziger, fetzenhafter Notizen aus frühen Jahren, aus der Inkubationszeit des im gedanklichen Werden begriffenen Großen Glases, in dem sich seinerseits eine Vielzahl seiner einzelnen Arbeiten nochmals in einem neuen Werk vereinen. Die Unterscheidung zwischen vorbereitenden und fertigen Werken wird damit aufgelöst, stattdessen das Gesamtwerk des Künstlers als Ausfaltung seines künstlerischen Bewußtseins festgehalten, öffentlich gemacht und damit zugänglich.
Das Œuvre in der amerikanischen Kunst nach 1945
In der Kunst der Nachkriegszeit treten Werk und Oeuvre in eine neue Konstellation. Kunstpraktiken gewinnen eine neuartige Kohärenz und Konsequenz, die dazu führt, dass nicht mehr einzelne Werke, sondern ein virtuell allen Werken zugrundeliegender künstlerischer Ansatz ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. In exponierten Fällen wird das gesamte Oeuvre als einheitliches Werk konzipiert. Der Vortrag soll zeigen, dass eine grundlegende Veränderung des Werkverständnisses die Voraussetzung einer Entwicklung war, anderen Ende die Beziehung zwischen Einzelwerk und Oeuvre von einer zwischen Oeuvre und Kunstgeschichte abgelöst wird.
Tagwerk als Lebenswerk bei On Kawara
Aufwachen, Gehen, Begegnungen mit anderen Menschen bilden die Grundlage für On Kawaras Serien I Got Up, I Went und I Met (1968–1979). Einfache Alltagshandlungen – gleichermaßen profan wie elementar – übersetzte der Künstler mit forschergleicher Akribie und auf entwaffnend lakonische Weise in materielle Träger: Postkarten, kopierte Stadtpläne und mit Schreibmaschine getippte Listen. In ihrer Gesamtheit ergeben die Serien einen persönlichen Atlas des Künstlers, den er mit weiteren Werkgruppen zu einer umfassenden phänomenologischen Dokumentation seiner Existenz ausbaute. Seine Today Series, die der Künstler am 4. Januar 1966 begann, besteht aus monochrom bemalten Leinwänden, die in weißer serifenloser Schrift nichts weiter als das Datum des jeweiligen Tages zeigen. War das Werk bis Mitternacht nicht vollendet, wurde es zerstört. Dieses Regelwerk bewirkte, dass die Entstehungsvoraussetzung selbst – nämlich die Gültigkeit der jeweiligen Raum-Zeit-Konstellation – das alleinige Motiv generierte. Nach diesem Prinzip schuf Kawara über einen Zeitraum von 48 Jahren seine sogenannten Date Paintings und entzog sich damit dem Diktat des spontan aus sich selbst herausschaffenden innovativen Künstlergenies.
Obwohl die konzeptuellen Werkserien so fundamental an sein Leben gekoppelt sind, liegt dem Werk eine spezifische Spannung zugrunde: Seit den 1960er Jahren hatte Kawara sich gängigen Mechanismen des Kunstbetriebs entzogen. Er ließ sich nicht fotografieren, gab keine Interviews und mied offizielle Termine. Diese nach außen hinterlassene Leerstelle entfaltet in Hinblick auf die Betrachterwahrnehmung und Rezeption des Gesamtwerks eine besondere Tragweite. Der Vortrag wird sich eng an Kawaras Œuvre entlang bewegen und sich insbesondere dem Verhältnis zwischen Einzelwerk, Serie und Gesamtwerk widmen.
Vom Tod des Autors zum Leben des Künstlers
Nachdem der in Dresden geborene Gerhard Richter 1961 aus der DDR in den Westen übersiedelte und an der Kunstakademie Düsseldorf ein zweites Kunststudium begann, suchte er zunächst nach einer radikalen Kehrtwende mit einer Malerei unter Anleihen bei Giacometti, Fautrier und Fontana. Doch bereits 1962 präsentierte er seine informelle Malerei zum ersten und letzten Mal der Öffentlichkeit und begründete mit dem Gemälde Tisch ein neues Œuvre, das er sodann fortlaufend nummerierte. Dieser tabula rasa-Akt ist nicht nur der Beginn seiner selbstbewussten Planung eines künstlerischen «Gesamtwerks», sondern zugleich Teil eines vielfältigen Systems der medialen Selbstreflexion und -dokumentation, das in der Einrichtung des Gerhard Richter Archivs in seiner Geburtsstadt Dresden samt einer offiziellen Website gipfelte.
Der Vortrag möchte die unterschiedlichen Narrationen verfolgen, die der Künstler dabei über sein Werk und Leben entwickelt, und zeigen, wie das Verhältnis von Ganzem und Detail als werkinterne Reflexion der eigenen «Zeitgenossenschaft» verstanden werden kann, die Aktualität erzeugt und dabei auch die Historizität von «posthistorischer» Kunst zum Thema macht.
Die Sorge um den Nachlass – und damit um den Nachruhm – treibt heute nicht nur einen Maler wie Gerhard Richter an, der seine Karriere dem Medium des transportablen, im Atelier gefertigten Tafelbildes verdankt, sondern auch einen Künstler wie Daniel Buren, der 1971 prognostizierte, seine Arbeit entstehe in situ und gehe aus dem Verzicht auf ein Atelier hervor. Schon 2010 stellte Daniel Buren sein Werkverzeichnis der Jahre 1967 bis 1972 online, das seither um eine Liste aktueller Ausstellungen ergänzt wird. Buren definiert seinen Künstlerstatus darüber, dass die Welt sein Atelier sei, was seine Homepage durch den Verweis auf Google Maps unmissverständlich klar macht. Burens Werk, das sich an vielen Orten und in unterschiedlichen Institutionen temporär manifestierte, konstituiert sich per se erst im Nachhinein – im Archiv. Die Präsentation seines Nachlasses zu Lebzeiten auf einer eigenen Website fasst Daniel Buren daher als eine unerlässliche Post-Studio-Praxis auf. Folgerichtig ergänzen und kommentieren sich auf seiner Website die verschiedenen Modalitäten seines Werks, doch werden diese, getreu der Struktur des digitalen Netzes, niemals fest miteinander verknüpft. Ebenso wie die Installationen im Ausstellungsraum ist die Website das Ergebnis einer kollektiven Arbeitsform. So schreibt Buren im Vorwort auf seiner Website, dass er wisse, dass die Erschließung eines solchen Künstler-Archivs eine spezifische kunsthistorische Kompetenz voraussetze, die in seinem Falle Annick Boisnard eingebracht habe. Eine solche jahrzehntelange akribische Forschungsarbeit sei extrem kostspielig, ja im Prinzip unbezahlbar, weshalb er sich, in einer Art paradoxaler Wendung dazu entschlossen habe, die Ergebnisse der Öffentlichkeit kostenlos zur Verfügung zu stellen. Vorstellen möchte ich diese konzeptuelle Zusammenarbeit einer Kunsthistorikerin und eines Künstlers im Hinblick auf das spezifische Werkverständnis, das sich solcherart artikuliert.